Hörprobe Für immer ist morgen, Kapitel 1
Stimme: Rainer Zurlinde
Hörprobe Für immer ist morgen, Kapitel 2
Stimmen: Monika Schärer und Thomas Stuckenschmidt
Der Text zu Kapitel 1:
"Was denn...?!"
Verdutzt starrte er hinüber. Sie machte sich an den Knöpfen ihres Kleides zu schaffen. Unwillkürlich drückte er sich tiefer ins Gebüsch. Rund fünfzig Meter trennten ihn von den beiden. Er fischte behutsam nach dem Fernglas und gönnte sich einen genaueren Blick. Ihr Körper sprang ihm entgegen, sie hatte das Kleid fallenlassen. Er korrigierte die Schärfe, der dunkle Fleck knapp über ihrer Leiste gewann Konturen. Sanft geschwungene Linien verschoben sich, traten hervor und umrahmten eine Zeichnung, die einer Klaue glich. Tätowierungen interessierten ihn weniger, das Fernglas senkte sich auf das dunkle Dreieck darunter.
Ihr Fuss wischte das Kleid beiseite. Sie nahm den CD-Player und zwei kleine Lautsprecher aus der Tasche, balancierte über die Steine an den Abgrund, kauerte sich nieder und verkabelte das Gerät. Ihr Begleiter blieb regungslos sitzen, seine Hand lag kraftlos auf der Fotokamera neben ihm. Dumpfe, dräuende Bassklänge breiteten sich aus, überlagert vom staubigen Knistern einer gesampelten Vinylplatte. Zögernd nahm sie den hypnotischen Rhythmus auf. Eine dunkle Frauenstimme setzte ein. Das Wiegen ihrer Hüften wurde stärker, ihre Füsse tasteten sich in erste Tanzschritte.
Ein Lächeln huschte über seine Züge und zerfiel. Die Sonne war hinter der grossen Biegung des Canyons untergegangen, das schmale Band des Colorados verlor sich im Schatten der Schlucht. Er nahm ihre Umrisse nur noch durch einen Schleier wahr, eine dunkle Silhouette vor wächsernem Himmel. Seine Hand hob langsam die Kamera, die andere drehte am Objektiv, ein Finger drückte den Auslöser. Ohne den Rhythmus aufzugeben, entzog sie ihm den Apparat, drehte eine Pirouette und schleuderte ihn in die Tiefe.
Er wehrte sich nicht, er hatte sein letztes Bild gemacht.
"Wenn ihr den nicht mehr braucht...!" Der Mann im Gebüsch lag unbequem. Als er seine Hüfte zur Seite drehte, zuckte er zusammen und unterdrückte ein Stöhnen. Das Fernglas fiel in den Staub. Sorgenvoll betrachtete er die verletzte Hand, die Bisswunde lief schon blau an. Mistvieh! Doch woher hätte er wissen sollen, dass sich das Eichhörnchen die pampigen Sandwichreste mit seiner Fingerkuppe garnieren würde...? Die weissen Schilder waren ihm erst später aufgefallen. Sie warnten davor, die Tierchen zu füttern. Irgendwas von Pest oder Seuche stand da. Sein Englisch war nicht perfekt, vielleicht hatte er etwas falsch verstanden, aber er fühlte sich bereits leicht fiebrig.
Sie hatte oft getanzt. Wild improvisierend oder schulmässig kontrolliert. Und selten, in einer ihrer Aufführungen, beides vermischt. Ihre Fähigkeit, Musik sichtbar zu machen, hatte ihn immer berührt. Heute nicht. Das lag nicht nur an ihm. Sie wolle ihm einen Wunsch erfüllen, hatte sie gesagt, doch jetzt wurde ihm klar, dass sie nicht für ihn tanzte. Wie oft hatte sie das Publikum gesucht, nach Aufmerksamkeit und Applaus gierend! Er hatte es ihr vorgehalten und ein anzügliches Lächeln geerntet. Wer denn unmoralischer sei, die Exhibitionistin oder der Voyeur? Diesmal blieb sie in sich, jede Bewegung endete da, wo sie begonnen hatte. Bis sie ihn hochzog und auf eine Steinplatte am vordersten Rand der Klippe führte.
"Jetzt!" sagte sie.
Seine Hand zeichnete die Konturen ihres Gesichtes nach, sie schloss die Augen. Er war dankbar. Wenn sie ihn anschaute, gab es kein Entrinnen. Viaggio in fondo ai tuoi occhi. Reise ohne Wiederkehr.
Seine Hand strich ihrem Hals entlang. Geschaffen für Colliers, die sie nie tragen würde. Ihre Brüste schienen derselben Form entsprungen wie die Höhlung seiner Hand. Seine Finger glitten über ihren harten, flachen Bauch, zögerten kurz in der Einbuchtung der Leiste, verloren sich dann in den tiefschwarzen Haaren. Sie öffnete sich. Sanft liess er die Fingerkuppe kreisen, der Handballen drückte auf ihr Schambein, übertrug die Spannung seines Armes auf ihren Körper.
"Voodoo &endash; che fra le gambe scalpita!" flüsterte sie später und sog durch Nase und Mund gleichzeitig Luft ein. Sie hätte nichts zu sagen brauchen, er spürte selbst jetzt ihre Reaktionen voraus. Das feine Zucken ihrer Bauchmuskeln ... Es blieb nicht viel Zeit. Wie unvermittelt sie auf seine Berührungen reagierte, hatte ihn jedesmal wieder überrascht und erregt. Jetzt wollte er in einem Anflug von Zweifel den Höhepunkt hinauszögern. Sie öffnete die Augen. Er verstärkte den Druck leicht, ihre Bewegungen wurden fliessender, flehend.
Das Fernglas beschlug, er hatte es in seiner Erregung zu stark an die Augen gedrückt. Er liess es fallen, für einen Augenblick sah er alles verschwommen. Ihr Körper, der eben noch quer über seinen angezogenen Beinen gelegen hatte, bäumte sich auf, seine Arme gingen hoch. Sie schwebte.
Und fiel.
Fiel an seinen Armen vorbei.
Fiel endlos. Der Klippe entlang, bis sie von einem Felsvorsprung zurückprallte, weiter in die Tiefe, seltsam verdreht.
Einen Moment lang hoffte er, seinen Augen nicht trauen zu müssen. Doch am Abgrund sass nur noch der Mann, die Arme gegen die Schlucht gestreckt, einem Sonnenanbeter gleich. Schweiss rann über sein Gesicht, als er sich im Gebüsch aufsetzte. Seine Erregung wich dem Wunsch, nicht gesehen zu haben, was er gesehen hatte. Und der absurden Hoffnung auf eine Fernsehzeitlupe, die ihm das bestätigen würde.
Die erste Bewegung war der mechanische Griff zur Kamera. Die Hand fasste ins Leere und sackte auf die Steinplatte, die andere folgte langsamer. Die Musik war schon lange verstummt. Sein Blick irrte über die endlosen Felsbänder des Canyons und blieb am einzigen Kegel hängen, der noch von der Abendsonne beschienen war.
Er warf den Kopf heftig zur Seite, als schüttle er etwas ab, und stand auf. Ohne dem Inhalt einen Blick zu schenken, schleuderte er ihre Tasche in den Abgrund. Den CD-Player und die Lautsprecher kickte er hinterher. Er setzte sich wieder, starrte minutenlang in die mächtige Kraterlandschaft hinaus. Die Felswände strahlten bereits in einem stählernen Blau.
"Kathedrale aus Stein. Eine gottverfluchte Kathedrale!" sagte er tönern.
Er wollte die endgültige Leere als letztes Bild in sein Gedächtnis brennen, doch sein Blick schrammte immer wieder an einem der tausend Felsbänder ab, irrte in einen Seitencanyon und den nächsten und zurück. Ohne Kamera war er verloren. Sie hatte ihm das ausgeschnitten, was wichtig war, und von allem anderen abgeschottet. Jetzt musste er wieder sehen lernen, nur wollte er nicht mehr. Er legte sich auf den Rücken und liess es Nacht werden.